Die Familie als entscheidender Faktor der Integration

03.03.2021

Seit einigen Jahren wird im Rahmen der „Ludwigsburger Januargespräche zu Migration & Integration“ im Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis über die Dynamiken einer postmigrantischen Gesellschaft nachgedacht. In diesem Jahr – und zum ersten Mal als Videokonferenz – stand die Familie als ein zentraler Baustein der postmigrantischen Gesellschaft im Zentrum der anregenden Diskussionen, inspiriert durch Impulsreferate von Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland.

„Familie ist die zentrale Institution der Vermittlung von Werten und Normen und entscheidet wesentlich mit über die gelingende Sozialisation in einer Gesellschaft“, sagte der Rektor der HVF, Prof. Dr. Wolfgang Ernst bei der Begrüßung. Ernst machte diesen Zusammenhang von Tradition und Modernisierungspotential von Familien zum Fokus seines Grußwortes an die zahlreichen Teilnehmenden der Januargespräche.

Die Familie trägt zur Vermittlung von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft bei, spielt eine wichtige Rolle in der Verarbeitung von Migrations- und Integrationserfahrungen und hilft bei der Platzierung ihrer Mitglieder. Prof. Dr. Jörg Dürrschmidt von der HVF dazu: „Das birgt aber auch erhebliches Konfliktpotential zwischen den Generationen und Geschlechtern innerhalb der migrantischen Familien sowie zwischen den Familien und der Aufnahmegesellschaft.“ Insbesondere das in Deutschland geltende Rechts- und Verwaltungssystem, welches Anpassungen von jahrhundertealten Traditionen erzwingt, kann zu massiven Konfrontationen zwischen den Familien und den Behörden, aber auch innerhalb der Familien führen. Aus der Erfahrung der kommunalen Integrationsarbeit der letzten Jahre wird immer deutlicher, dass die materiellen und immateriellen Ressourcen der Familien wesentlich mit darüber entscheiden ob und wie Integration gelingt.

Im ersten Impulsreferat durch Prof. Dr. Ahmet Toprak, Professor für Angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund ging es um die traditionellen Rollenbilder in der Erziehung als Integrationshindernis. „Die Vermittlung traditioneller Geschlechterrollen sowie die konservative Bildungseinstellung vieler migrantischer Eltern können ein Hindernis für erfolgreiche Bildungskarrieren sein“, so Toprak. Zugleich betonte er, dass Schule und Lehrkräfte sensibler sein müssen für die Ausgangsbedingungen und Potentiale migrantischer Kinder, damit Familie und Schule als Institutionen der Sozialisation nicht in Konkurrenz, sondern komplementär arbeiten.

Der sich anschließende Vortrag von Dr. Jörg Dürrschmidt, Professor für Soziologie an der HVF, zum Resilienzpotential migrantischer Familien richtet die Aufmerksamkeit auf die Doppelstruktur von Familie als gesellschaftliche Institution und intimes Milieu. „Eine gelingende Vermittlung zwischen beiden Aspekten ist eine grundsätzliche Bedingung für nachhaltige Integration in eine Gesellschaft“, ist sich Dürrschmidt sicher. Migrantische Familien sind hier aber besonders in ihrer Resilienz gefordert, unter anderem wegen Rollenverschiebungen und Delegationsaufträgen zwischen den Generationen sowie durch ein geringeres ausgeprägtes Vertrauen in die staatlichen Institutionen.

Dr. Sarah Carol, Professorin für Soziologie am University College Dublin und von dort zugeschaltet, beleuchtete anschließend anhand von statistischen Langzeitstudien zu interethnischen Ehen in Westeuropa und deren Determinanten und Effekte im Lebensverlauf. „Die kulturelle Distanz mit zunehmender Verbindlichkeit der Paarbeziehung in Richtung Heirat und der gemeinsamen Sozialisation von Kindern ist ein entscheidender Faktor“, stellte Carol fest. „Sowohl Heirat als auch Scheidungswahrscheinlichkeit werden signifikant durch die kulturelle Abständigkeit mitbestimmt. Die vorliegenden Analysen zeigen die Herausforderungen interethnischer Ehen auf“, so Carol weiter.

Den zweiten Tagungstag eröffnete der Prof. Dr. Christian F. Majer mit dem Thema Kindeswohl und Familienrecht im interkulturellen Kontext. Majer ist Professor für Zivilrecht, Zivilprozessrecht, Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht an der Hochschule Ludwigsburg. Er machte deutlich, dass gerade in dynamischen modernen Gesellschaften im Spannungsfeld von sozialen und rechtlichen Normen immer wieder Ausfüllungsbedarf im Detail entstehen kann. „Das ändert aber nichts daran, dass gerade in Bezug auf das Verhältnis von Familie-Kind-Staat auch in einer postmigrantischen Gesellschaft keine rechtsfreien Räume entstehen dürfen“, so Majer. Und weiter: „Im Zweifelsfall müssen die Rechte des Einzelnen – insbesondere schutzbedürftiger Kinder – auch gegen die Familie durchgesetzt werden.“

Daran anknüpfend referierte der Professor für Islamisches Recht an der Universität Tübingen, Dr. Mouez Khalfaoui, zu dem Thema Kindeswohl aus islamtheologischer Sicht und stellte dabei die Frage: Was hat sich geändert? Im Vortrag wurde deutlich, dass die die islamische Rechtsprechung, historisch betrachtet, eine wesentlich stärkere Verankerung individueller Rechte, insbesondere auch von Mädchen verkörpert, wenn sie in Kontrast zu vorhergehenden antiken Formen der Rechtsprechung gesetzt wird. „Die Modernisierungsfähigkeit dieser Rechtsprechung mit Bezug auf die Lebenswirklichkeit der in Europa lebenden Muslime bleibt aber umstritten“, so die Meinung von Khalfaoui.

„Familiale Erziehung in multikulturellen/multireligiösen Gesellschaften – Anspruch und Herausforderung“ lautet das Thema des Vortrags von Dr. Haci-Halil Uslucan der an der Universität Duisburg-Essen als Professor für Moderne Türkeistudien forscht und lehrt. Er ging zunächst auf die Besonderheiten migrantischer Familiensozialisation anhand langfristiger Beobachtung von türkei- stämmigen Migrantinnen und Migranten ein. Uslucan hob hier vor allem auf die doppelten Bezüge, also Herkunftsland und Ankunftsgesellschaft und Bindungsabbrüche als Problemfelder hervor. „Der beste Impuls nachhaltiger Integration ist ein autoritativer, nicht autoritärer Erziehungsstil, der sich durch hohe Anforderungen und Selbstständigkeitszumutungen bei gleichzeitiger emotionaler Zuwendung, der aus Familien kommen kann, auszeichnet“, stellt Uslucan fest.

Abschließend machte Dr. Eveline Reisenauer, Wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstitut e.V. München, in ihrem Beitrag „Vielfalt von Migrationsfamilien: Herausforderungen und Chancen“ nochmal deutlich, dass eine pauschale Betrachtung von Migrantenfamilien angesichts zunehmender sozialer und kultureller Diversität nicht mehr angemessen ist. „Es gilt der unterschiedlichen Verortung in den sozialen Milieus der Ankunftsgesellschaft, der differenzierten Einbindung in transnationale Netzwerke sowie der Zunahme experimenteller Formen privater Lebensführung im Spektrum der migrantischen Familien Rechnung zu tragen“, appellierte Reisenauer bei ihrem Vortrag.

Die im Anschluss an die Referate geführten virtuellen Podiumsdiskussionen fanden an beiden Tagen große Resonanz. Sie lebten größtenteils von den interessierten Nachfragen aus Kreis der Teilnehmenden, vertieften aber nochmal zentrale Diskussionspunkte, wie beispielsweise: wo kippt Tradition in eine patriarchalische Familientradition? Macht es Sinn, den Begriff Migrationshintergrund aus der politischen und/oder wissenschaftlichen Debatte zu verbannen? Inwieweit sollte Recht in die fragilen Übergänge von Familie und Gesellschaft eingreifen dürfen? Brauchen wir deutlichere normative Formulierungen von Integrationserwartungen in Richtung migrantischer Familien? Wie kann das Aufbrechen tradierter Rollenbilder in der kommunalen Integrations- und Sozialarbeit proaktiv unterstützt werden?

Die Reaktionen, die diese Fragestellungen um den Themenbereich auslösten, zeigten sich in der großen Anzahl der Teilnehmenden, wobei das virtuelle Format hier zusätzlich Aufschub geleistet haben mag. „Wir konnten über 270 Teilnehmende aus unterschiedlichen Bereichen der kommunalen Integrationsarbeit in den Städten und Gemeinden begrüßen“, freute sich Jörg Dürrschmidt, neben Christian F. Majer, Veranstalter dieser Fachtagung.

Die Teilnehmenden kamen aus Ausländerbehörden, Landratsämtern, Stiftungen, von Terre des Femmes, von psychologischen Beratungsstellen, aus der Schulsozialarbeit, vom Netzwerk Asyl, Frauenbeauftragten, den Ämtern für Migration und Integration, dem Caritasverband, der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V., der DRK Kreisverband, verschiedenen Jobcentern der Arbeitsagentur und Jugendämtern und nicht zuletzt aus dem Freundeskreis Asyl und viele mehr.

Regional war die Tagung ebenfalls gut eingebettet mit Teilnehmenden aus vielen Städten und Gemeinden Baden-Württembergs, nicht zuletzt auch dem Raum Ludwigsburg.

Christian F. Majer und Jörg Dürrschmidt waren sich am Ende einig: „Der große Zuspruch und die Tradition der Ludwigsburger Januargespräche sind für uns Verpflichtung, die Veranstaltungsreihe fortzusetzen.“ Beide planen bereits eine Fachtagung zum Themenfeld Rassismus und Diskriminierung für den Januar des kommenden Jahres.

 

Präsentationen und Podcasts:

Prof. Dr. Ahmet Toprak, Fachhochschule Dortmund:
Traditionelle Rollenbilder in der Erziehung als Integrationshindernis
PräsentationPodcast
Prof. Dr. Jörg Dürrschmidt, Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg: Widerstands- oder Anpassungsfähigkeit? – Überlegungen zum Resilienzpotential migrantischer Familien
PräsentationPodcast
Prof. Dr. Sarah Carol, University College Dublin; Research Fellow am WZB Berlin: Interethnische Ehen in Westeuropa: Determinanten und Effekte im Lebensverlauf
PräsentationPodcast
Prof. Dr. Christian F. Majer, Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg: Kindeswohl und Familienrecht im interkulturellen Kontext
PräsentationPodcast
Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan, Universität Duisburg-Essen/Fakultät für Geisteswissenschaften: Familiale Erziehung in multikulturellen/multireligiösen Gesellschaften. Anspruch und Herausforderung
PräsentationPodcast
Dr. Eveline Reisenauer, Deutsches Jugendinstitut e.V. München: Vielfalt von Migrationsfamilien: Herausforderungen und Chancen

Prof. Dr. Christian F. Majer, Professor für Zivilrecht, Zivilprozessrecht, Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg.

Prof. Dr. Jörg Dürrschmidt, Professor für Soziologie an der HVF

Dr. Sarah Carol, Professorin für Soziologie am University College Dublin

Dr. Eveline Reisenauer, Wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstitut e.V. München

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen