Diskriminierung und Rassismus – Ludwigsburger Januargespräche 2022 - 10. Februar 2022

10.02.2022

Es waren Integrationsbeauftragte, Mitarbeitende von Gleichstellungsabteilungen und aus den Bereichen Flüchtlinge und Ausländerwesen mit ihren praktischen Fragen der kommunalen Migrations- und Integrationsarbeit, die sich für das diesjährige Thema „Diskriminierung und Rassismus“ interessierten.

Nach kurzen Grußworten von Rektor Professor Dr. Wolfgang Ernst, der Gleichstellungsbeauftragten Professorin Dr. Sarah Bunk sowie dem Mitveranstalter und Direktor des Instituts für Angewandte Forschung (IAF) Professor Dr. Christian F. Majer eröffnete Professor Dr. Jörg Dürrschmidt die Vortragsreihe. Dürrschmidt, Soziologe und ebenfalls IAF-Direktor beschäftigte sich mit dem Thema „Die Corona-Krise als Prisma sozialer Disparitäten in der postmigrantischen Gesellschaft“. Dürrschmidt stellte in seinem Vortrag die Unterschiede in den Erkrankungsraten und schweren Verläufen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten fest und diskutierte den Einfluss, den soziale Benachteiligung und Migrationshintergrund im Zusammenspiel haben können. Vor diesem Hintergrund sind unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen in Deutschland und anderen europäischen Ländern von Interesse. Dies wird gerade in einer an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg (HVF) unternommenen Vergleichsstudie zwischen Migranten aus Bangladesch in London, der Türkei in Stuttgart und Peru in Mailand untersucht. „Wir brauchen ein kontextsensibles Verständnis von Diskriminierungserfahrung nicht nur während der Pandemie, sondern gerade für die Zeit ihrer sozialen Nachfolgewirkungen“ schloss Dürrschmidt seinen Beitrag.

Als zweiter referierte Professor Dr. Egon Flaig, emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der Universität Rostock. Flaig stellte die „Geschichte des Rassismus“ von der Antike bis zur Gegenwart dar und wies auf die Entstehung und Verbreitung des Hautfarbenrassismus in der arabischen Welt des Mittelalters hin. Er kritisierte dabei zudem die Ausweitung des Rassimus-Begriffs im 20. Jahrhundert auf Kategorien wie Kulturen und bemängelte eine Unschärfe und Weite der modernen Definitionen des Rassismus. Dementsprechend plädierte Egon Flaig wie Jörg Dürrschmidt für eine differenzierte und kontextspezifische Verwendung von Begriffen.

Im Anschluss erörterte Professorin Dr. Petia Genkova in ihrem Vortrag „Interkulturelle Kompetenz – ein Schlüssel zum Erfolg. Psychologische Aspekte der Kompetenzförderung zur Diskriminierungsreduktion“ die psychologischen Faktoren der Integration mit Statistiken und Beispielen. Die Psychologin an der Hochschule Osnabrück zeigte dabei anschaulich, dass kulturelle Einstellungen entscheidend zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Diskriminierungserfahrungen beitragen.

Im letzten Beitrag des ersten Fachtagungstags beschäftigte sich Sally Hohnstein vom Jugendinstitut Halle mit dem Thema „Rassismus und professionelle Alltagspraxis“. Anhand von Interviews aus der sozialpädagogischen Praxis rekonstruierte Hohnstein sehr nachvollziehbar, wie Konflikte häufig ethnisiert würden, die in ihrer Grundstruktur andere Ursachen haben, etwa Nachbarschafts- oder Generationskonflikte.

Den zweiten Tag eröffnete Professor Dr. Christian F. Majer mit dem Vortrag „Rassendiskriminierung in Grundgesetz und AGG“. Majer stellte das bestehende Verbot der Rassendiskriminierung dar und ging auch auf Reformdiskussionen ein. Er wies zudem auf eine verbreitete Unkenntnis des durchaus effektiven Diskriminierungsschutzes in der Praxis hin.

Professorin Dr. Claudia Dickhäuser und Professor Dr. Oliver Sievering von der HVF berichteten von Diskriminierungen im Alltag der Hochschulen und entsprechenden Gegenmaßnahmen.

Frau Dr. Sandra Kostner, Soziologin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd kritisierte in ihrem Beitrag „Struktureller Rassismus: Das Sesam-Öffne-Dich postkolonialer Antirassismuspolitik“ die häufig fehlende empirische Verankerung in der aktuellen Wissenschaft und die oft unwissenschaftlichen Behauptungen im Zusammenhang mit Rassismus. Beides nach ihrer Ansicht bedingt durch ein recht unvermitteltes Übertragen von anglo-amerikanischen Begriffen.

Den letzten Vortrag der diesjährigen Ludwigsburger Januargespräche kam von Vojin Saša Vukadinovic zum Thema „Rassismus und Identitätspolitik“. Der Kulturredakteur der Schweizer Zeitschrift „Schweizer Monat“ kritisierte eine kollektivistische Verengung der Rassismusdiskussion auf Opfer- und Tätergruppen und deren fehlende Vision eines respektvollen Miteinanders.

Christian F. Majer bedankte sich bei allen Referierenden und sagte abschließend: „Von zentraler Bedeutung für unser Handeln und zwingende Vorgabe des Rechts ist es, dass wir uns von rassistischen Ideen befreien und Menschen nicht nach Hautfarbe oder Herkunft beurteilen, diese müssen stets unbeachtlich sein. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch und nicht eine vermeintliche Gruppenzugehörigkeit.“

Zahlreiche Nachfragen zeigten das enorme Interesse an den Vorträgen. Viele Reaktionen deuteten auch auf die Kontroversität mancher Thesen und Auffassungen hin, wie es bei dieser Thematik nicht anders zu erwarten war und immer auch Ziel einer wissenschaftlichen Tagung sein muss, deren Funktion es stets ist, zum Nachdenken anzuregen und Gewissheiten in Frage zu stellen und nicht nur Bekanntes wiederzugeben. In diesem Sinne haben sich die Veranstalter über das Interesse und die vielen spannenden Vorträge gefreut, die allen Teilnehmenden Stoff zum Nachdenken geliefert haben.

Alle weiteren Informationen zur Fachtagung finden Sie auf der Homepage der HVF.

Prof. Dr. Jörg Dürrschmidt